Helge wird wieder Herzensvater

29.05.2015

Viele müssen ihre Erfahrungen mit Fehlgeburten machen – leider. In meinem direkten Umfeld sind gefühlte 50% aller Frauen von dieser traurigen Erfahrung betroffen, dabei liegt die tatsächliche Quote niedriger. In Dänemark wurde eine Studie von 1978-1992 durchgeführt, wonach die Fehlgeburts-/Abbruchquote bei den 30-34 jährigen Frauen bei 33% liegt (siehe Datenblatt).

In meinem letzten Beitrag Ein wilder Mann im letzten Satz habe ich ziemlich unsanft von unserem Abgang berichtet. Seit dem sind nun 24 Tage vergangen. Und die hatten es in sich.

Rieke ruft mich vor 24 Tagen ins Bad, ich kann ihre Tränen bereits fließen sehen und weiß augenblicklich, was passiert ist. Ich bin von Haus aus aber eher optimistisch, daher will ich erstmal wissen, was los ist, um Rieke vielleicht beruhigen zu können.

Schmierblutungen treten häufig auf. Das kann mal passieren. Mach dir keine Sorgen.

Doch schnell begreife ich, dass sich hier nichts beruhigendes mehr sagen lässt. Die wohlige Wärme, die Euphorie und alle anderen Gefühle sich mit dieser frühen Schwangerschaft entwickelt haben verschwinden sprichwörtlich im Strudel der Toilettenspülung. Stattdessen werde ich von einer Trauer übermannt, die mir die Beine wegzuziehen versucht. Es ist bereits spät am Abend und wir legen uns ins Bett. Wir weinen, schluchzen und halten uns fest in den Armen bis der Schlaf uns nach einer Ewigkeit erlöst.

Tag 1

Am nächsten Tag gehen wir beide zur Arbeit! Warum? Zum Einen unterschätze ich wahrscheinlich die Auswirkungen und zum Anderen will ich Ablenkung! Es stellt sich raus, die Idee ist nicht besonders gut. Ich muss direkt in eine 2-stündige Besprechung mit meinen Kollegen und im Anschluss finde ich mich in einer 2-stündigen Videokonferenz wieder, die meine Nerven – auch ohne mein Privatleben – sehr beansprucht. Mir gelingt kaum ein Lächeln, jeglicher Smalltalk mit mir ist zum Scheitern verurteilt und meine Toleranzstufe ist gleich null. Mein Chef, der im Allgemeinen von meiner Situation weiß, fragt mich im Anschluss, welche Laus mir denn über die Leber gelaufen ist. Ich erkenne, dass es wenig Sinn hat, meine Kollegen und Geschäftspartner anzuschnauzen und erzähle ihm von meinem Leid. Er schickt mich daraufhin nach Hause, wo Rieke bereits auf mich wartet. Ich besorge uns schnell zwei Eis, hole sie aus der dunklen Wohnung und fahre mit ihr in den Wald. Dort spazieren wir stundenlang durch die Natur, schweigen, reden, schweigen, weinen und schütteln die Ohnmacht der Trauer von unseren Schultern. Danach bestellen wir uns das fettigste, ungesündeste Frustessen, das wir finden können und verbringen den Abend vor dem Fernseher. Wir haben das Gefühl, die Situation gut meistern zu können.

Tag 2

Pustekuchen. Schon im Bus zur Arbeit rollen mir die Tränen über die Wangen und ich habe Mühe meinen „Mitpendlern“ nicht lautstark die Ohren vollzuheulen. Glücklicherweise kann ich meine Arbeitszeit frei einteilen und wieder früher Feierabend machen. Ich fürchte bereits, dass mich diese Fehlgeburt nicht so schnell loslassen wird. Es ist irgendwie alles anders. Rieke und ich haben kein Bedürfnis mit anderen zu sprechen und auch, als wir es dann doch tun (Tage später) merken wir, dass es uns nicht weiterbringt. Die Anteilnahme ist zwar irgendwo schön, aber kaum jemand ist in der Lage adäquat zu reagieren – was ich wiederum auch verstehen kann.

Ein Tipp an alle, die von Freunden mit deren Fehlgeburt konfrontiert werden:

Zeigt euch gerne betroffen, verfallt aber bitte nicht in Mitleid! Ernsthaftes Interesse wie es dem gegenüber geht und Fragen nach dem was passiert ist, helfen viel mehr.

Das Gefühl, man belastet die eigenen Freunde und Verwandten, indem man vom eigenen Leid erzählt, macht die Sache schlimmer, als sie vorab schon war. Wenn man jedoch auf neutrale Gegenfragen stößt, bekommt man die Möglichkeit selber das Erlebte zu strukturieren und zu verarbeiten.

Die nächsten Tage

Wir beginnen uns also einzuigeln, wollen niemanden sehen, niemanden sprechen, ich fühle mich einfach nur leer. Wir sind füreinander da und sprechen über unsere Gefühle. Rieke versucht diesmal eher ihre Gefühle beiseite zu schieben, wohingegen ich alles so nehme, wie es kommt. Das Gefühl, ein ganz bestimmtes Kind verloren zu haben ist merkwürdigerweise nicht so vordergründig, sondern eher der Verlust einer Chance auf ein Leben mit eigenen Kindern.

Jetzt, 24 Tage später, befinde ich mich in einer Phase der Lustlosigkeit und Motivationsarmut – eigentlich einer Phase der Depression. Ich mache mir zwar keine Sorgen, aber will doch sehen, dass ich mich entweder bald erhole oder Hilfe konsultiere.

Rückblick

Es ist unsere zweite Fehlgeburt. Wobei, das habe ich erst heute gelernt, die erste Schwangerschaft als eine biochemische Schwangerschaft angesehen und nur die letzte als eine klinische Schwangerschaft gewertet wird. Der Verlauf ist der Fehlgeburt von vor zwei Jahren sehr ähnlich, aber diesmal hat die Frauenärztin eine Fruchtblase in der Gebärmutter entdeckt. Sie will sich zwar nicht festlegen, aber auch Rieke hat einen Punkt im Ultraschall erkannt. Daher ist diese wohl eine klinische Schwangerschaft. Zum Abgang hat die Frauenärztin ihre Bedenken geäußert, dass vielleicht etwas an unseren Genetik nicht harmonisiert. Vielleicht lassen wir das mal abklären – später.

Ich kann es immer wieder kaum glauben, dass es schon 2 Jahre her ist, seit wir unsere letztes „Kind“ betrauert haben. Wir haben es in fünf Jahren auf zwei Schwangerschaften gebracht, die auch noch zwei Jahre auseinander liegen. Krass. Wer hält denn so lange durch? Wir. Und ich habe irgendwie das Gefühl, dass es noch eine ganze Zeit dauern wird, bis wir glückliche Eltern sind – oder glücklich CNBC (Childless/-free Not By Choice).

Ich habe dank Isa und Belle (beide CNBC) von dem zauberhaften Blog Wonderland, auch bekannt unter „Manchmal ist es nie“, ein wunderschönes Wort gefunden, mit dem sich die hässlichen Begriffe Fehlgeburt und Abgang vermeiden lassen. Die beiden schreiben, dass sie Herzensmütter sind. Ich finde dieses Wort unglaublich passend und möchte es genau so sehen. Das Bild, dass wir zwei Kinder in unsere Herzen geboren haben, ist versöhnlich, wertschätzend und zeigt auch, dass diese Kinder nie wieder von einem gehen, sie bleiben immer in unseren Herzen.

Ich bin ein Herzensvater – sogar ein doppelter!

10 Kommentare

  • Antwort J.B. Am 02.06.2015 um 8:48 Uhr

    Hallo Helge, ich habe eben über das Wonderland auf deinen Blog gefunden.

    Und dann… Ach Scheiße. Bitte entschuldige meine Ausdrucksweise, aber manchmal geht es nicht anders. Ich hatte im Dezember 14 eine Fehlgeburt. Trotzdem weiß ich nicht was ich sagen soll. Weil irgendwie nichts hilft.

    Dennoch wollte ich dir und euch gerne meine Anteilnahme da lassen.

    Herzensvater bzw. Mutter. Auch ich finde diesen Begriff sehr, sehr schön. Weil unsere Kinder eben da sind. In unseren Herzen. Und da kriegt sie auch niemand je wieder raus.

    Für die Zukunft wünsche ich euch alles Liebe!

    J.B.

    • Antwort Helge Am 14.06.2015 um 22:18 Uhr

      Liebe J.,
      vielen Dank für Deine Anteilnahme (und entschuldige die späte Freigabe Deines Kommentars). Du hast recht, so wirklich hilft nichts. Mir ging es wirklich schlecht, damit hatte ich nicht gerechnet. Doch so langsam erhole ich mich, spüre wieder neue Energie in meinem Körper und kann mich über an schönen Tagen erfreuen. Kommentare, wie Deiner, geben mir dabei Kraft und zeigen, dass man nicht alleine dasteht.
      Ich wünsche auch Dir alles Gute für die Zukunft und werde nun treuer Leser Deines Blogs sein.
      Liebe Grüße!
      Helge

      • Antwort J.B. Am 15.06.2015 um 12:13 Uhr

        Die späte Freigabe meines Kommentars macht ja nun wirklich rein gar nichts 🙂

        Dass du nun treuer Leser meines Blogs bist freut mich natürlich. Dies war aber sicher nicht die Absicht hinter meinem Kommentar.

        Außerdem freue ich mich, dass es dir wieder etwas besser geht. Deiner Frau hoffentlich auch?

        Liebe Grüße!

        • Antwort Helge Am 16.06.2015 um 8:51 Uhr

          So war es auch nicht gemeint 🙂 Aber natürlich klicke ich, wenn ich eine (mir unbekannte) Blogadresse sehe. Wenn man nicht allein ist, mit seinem unerfüllten Kinderwunsch, hat man das Gefühl, als würde die Last auf mehrere Schultern verteilt. Ich freue mich daher über jede/n die/der ein Blog zu diesem Thema eröffnet.

          Meine Frau wurde nicht so stark mitgerissen, wie ich. Wir freuen uns mittlerweile wieder beide über glückliche Tage. Tückisch ist bloß der Schmerz, der in den unmöglichsten Situationen durch die gesamte Seele zuckt. Damit müssen wir leben, und es gelingt uns immer besser.

          Liebe Grüße nach Baden-Württemberg!

          • J.B. Am 16.06.2015 um 10:39 Uhr

            Ja, dieser Schmerz wird uns vermutlich auch immer bleiben. Irgendwie.

            Aber wie du sagst: Das damit Leben gelingt immer besser. Und das ist es doch, worauf es ankommt. Denn ändern können wir es leider nicht.

            Liebe Grüße zurück 🙂

  • Antwort Antje Am 30.07.2015 um 18:49 Uhr

    Oh Gott, ich weiß wie sich das anfühlt, wir haben mit 6 Fehlgeburten 9 Kinder verloren.
    Bitte gebt nicht auf, haben wir auch nicht und nun kuschelt sich grad ein knapp 3jähriger Knopf an mich ran während sein große Bruder mit meiner Mutter im Urlaub ist.
    Wollt Ihr medizinische Tipps oder seid Ihr diesbezüglich versorgt?

    Liebe Grüße unbekannterweise
    Antje

    • Antwort Helge Am 09.08.2015 um 18:30 Uhr

      Hallo Antje,
      vielen Dank für deine lieben Worte. Ich denke, es gibt unzählige Tipps, aber ich möchte gar nicht die Unendlichkeit aller Möglichkeiten kennenlernen.

      Liebe Grüße zurück,
      Helge

      • Antwort Antje Am 09.08.2015 um 18:53 Uhr

        Hallochen,

        das wäre auch nichts dramatisches, wir haben selber gar keine ICSI oder IVF versucht.
        Bei uns war die Lösung Heparin. Obwohl ich nachgewiesenermaßen keine Blutgerinnungsstörungen habe – die zwei ausgetragenen Kinder habe ich mit dem täglichen Pieks Blutverdünner bekommen.

        LG
        Antje

  • Antwort Die drei Schuppen der Meerjungfrau | Vaterwunsch Am 29.03.2016 um 14:44 Uhr

    […] auch wenn es mich nicht so sehr trifft, wie bei der letzten verlorenen Schwangerschaft (siehe Helge wird wieder Herzensvater). Rieke zerläuft aber förmlich in meinen Armen. Es ist schrecklich mit anzusehen und bricht mir […]

  • Antwort Umgang mit Downs auf der Arbeit [Blogparade] | Vaterwunsch Am 29.03.2016 um 14:49 Uhr

    […] So begann mein Tag am 29. Mai 2015. […]

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